2011-09-02

Aufgabe von Film: Raum sein für authentische Empfindung

Außerdem natürlich Beachtung des Mediums (analog zu Fotogénie). Die Ausstattung des Raums im Film muss eigenständig sein, um authentische, also nicht vorproduzierte Empfindungen zu ermöglichen. Das heißt, dass Überlagerung mit Echtbildern verhindert werden muss. Echtbilder kommen dann auf, wenn Miene, Geste, Kostüm oder Kulisse zu "heutig" ist. Ähnlich problematisch sind Referenzbilder, die z.B. innerhalb von Genres existieren und durch bestimmte Schlüssel assoziiert werden.

Was folgt, wenn es keine oder kaum Überlagerungs-Bilder gibt? Das Gezeigte wird "an sich" wahrgenommen. Es kann nicht verglichen und eingeordnet werden. Wir können als Zuschauende damit umgehen oder das zurückweisen. Filme sind aber meistens stark, sodass pure Indifferenz ihnen gegenüber nur wenigen Abgebrühten gelingt. Also müssen wir uns auf das Gezeigte einlassen, ähnlich wie wir uns auf Tanzveranstaltungen auf den Rhytmus einlassen: mit unserem ganzen Leib.
Das Bild wirkt mit Bewegung und Ton und menschlichen oder anderen "Figuren" (individuellen Einheiten) als Ganzes und fordert entsprechend eine Symphonie an Empfindungen heraus. Ein Zug an den Ohren und ein Moll-Akkord im Bauch, dazu ein Entspannen der Lunge und ein Zittern des Gaumens. Diese "Reaktion" ist eine enorm individuelle, kaum berechenbare.

Wir können, wenn sich zwei musikalische Themen vereinen oder Story-Geheimnisse aufgedeckt werden, eine "Erkenntnis" spüren. Das ist es, worauf wir uns freuen, wenn wir einen Film schauen, ein Buch lesen oder Musik hören: eine zunächst nur hypothetische Form (und die existiert auch im Nachhinein allein "im Auge des Betrachtenden") wird im linearen Medium umfahren (indem ihr Wiederschein sich in jeder Einstellung ausdrückt), und strahlt am Ende in ihrer Vollständigkeit vor unserem Geist; sie verselbständigt sich langsam in der Erinnerung.

Wir erinnern uns nicht an das passive "Lesen" des Films, sondern an die prägnanten Erkenntnisse; das sind die enttäuschten Erwartungen während des Schauens, die eingelösten Erwartungen, und schließlich und vor allem die retrospektive Zusammenschau nach dem Kinobesuch, in dem die Elemente zu einem passenden Ganzen verschmilzen, "Sinn" zum Beispiel in Form einer bestimmten Erzählhaltung oder Bewegungsrichtung ergeben, an die wir die Einzelerkenntnisse anhängen. Diese Synthese ist der wichtigste Erkenntnisvorgang, und er findet nach dem Schauen statt.

Nehmen wir Dogville (dessen Ende ich nicht gesehen habe): für mich ganz stark ist darin das Wirken von Lars von Trier zu spüren, der als eine Art Geist oder Gott ein Marionettentheater betreibt. Die Schauspieler sind stark, aber sie haben alle ein Schicksal, das den Fortgang des Spiels determiniert und das durch die Zwischentitel vorgegeben ist. Sehr brechtisch (z.B. Galileo), genau wie die V-Effekt-Kulisse, die nicht einlullt, sondern mal kühl, mal schmunzelnd informiert. Brecht ist auch so ein Schicksals-Diktator, der die Figuren seinem Weltbild unterordnet. Das ist so lange spannend, wie wir uns für sein Weltbild interessieren.

Wir sehen in Dogville keine heutigen Situationen, außer wenn das Gesicht von Nicole Kidman Assoziationen hervorruft oder die Gangster so stereotyp sind. Also ist der Film doch recht frei von Überlagerungsbildern. Damit haben wir Marionetten "an sich", deren Wirken ein Widerschein des Willens unseres Marionettenspielers beschreibt. Was wir erleben, Stationen einer Tragödie, richtet sich nach der Art, wie der Regisseur seine unsichtbaren Fäden zieht. So schließen wir auf selbigen. Im Falle von Dogville ist für ihn am charakteristischsten seine verzweifelte Erzählhaltung. Interessant an diesem Beispiel ist die Szene des Blinden, der einen strahlenden Himmel imaginiert. Ohne diese "Transzendenz", auf die eben auch die charakteristische Regie zeigt, wäre Dogville zu scheiße und tot wie "Mélo" von Resnais, in dem es nur abgeschlossene Räume gibt und der Regisseur keine Seele zeigt.

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